«Mit Solidarität die Armut bekämpfen»

6. Juni 2025

In der Schweiz leben etwa 300'000 Seniorinnen und Senioren unter der Armutsgrenze, doch nur ein Drittel bezieht Ergänzungsleistungen. Wir sprachen mit Herrn Knecht von der Pro Senectute Bern über Altersarmut und über mögliche Ursachen.

Simon Knecht; Foto: prosenectute.ch

Gian-Laurin Caluori/ Andrin Müller:

Herr Knecht, was ist Ihre Tätigkeit bei Pro Senectute Bern?

Herr Knecht:
Ich arbeite bei Pro Senectute Kanton Bern im Bereich Sozialberatung. Wir sind eine Gruppe von zwölf Personen, die in der Sozialberatung tätig sind. Die meisten von uns haben eine Ausbildung an der Fachhochschule oder ein Studium in Sozialarbeit an der Universität absolviert. Ich bin in den Bereichen Finanzielle Hilfe, Gesundheit, Integration und Migration zuständig.

Kurz gesagt sind wir Sozialberater und Sozialberaterinnen. Unsere Bezeichnung ist «Sozialarbeitende». Die meisten waren aber auch schon anderswo, wie in der Pflege oder in der Pädagogik, tätig.

Hat sich die Arbeit in den letzten Jahren stark verändert?

Ich selbst arbeite jetzt seit etwa acht Jahren in diesem Bereich. In dieser Zeit ist der Druck definitiv grösser geworden. Jede oder jeder Sozialarbeitende hat im Schnitt mehr Fälle zu betreuen, was mehr Termine und mehr Arbeit bedeuten. Das ist in den letzten acht Jahren deutlich spürbar geworden.

Und woran liegt das?

Einerseits an den neuen Leistungsverträgen, die alle vier Jahre mit dem Kanton ausgehandelt wer den. Andererseits gibt es einfach mehr ältere Menschen, die Unterstützung benötigen. Die Komplexität der sozialen Fragen hat zugenommen. Es sind oft kombinierte Probleme. Probleme, welche nicht nur finanziell, sondern auch gesundheitlich oder sozial sind.

«Der Druck der Gesellschaft ist definitiv grösser geworden»

Globale Krisen wie Ukrainekrieg oder Inflation treffen besonders Ältere und vom Armut betroffene hart. Die Folgen sind viel fältig: Wer sich Gesundes nicht mehr leisten kann, wird schneller krank. Wer aus Geldnot zu Hause bleibt, vereinsamt. Und wer mit Demenz oder Sprachproblemen kämpft, findet oft keine Hilfe.

Gibt es auch mehr Fälle extremer Altersarmut?

Ich denke nicht, dass solche Fälle zugenommen haben. Es gibt einfach mehr hilfsbedürftige Menschen. Dadurch kommt man häufiger mit extremer Armut in Kontakt. Wir haben in der Schweiz bereits ein gutes Sozialsystem, welches extreme Armut vorbeugt. Jedoch gilt das nicht für eine höhere Zahl durchschnittlicher Armut. Die Anzahl Bedürftiger steigt, wenn auch langsam.

Wie oft haben Sie mit dem Thema Altersarmut zu tun?

«Oft ist es schon eine grosse Erleichterung, nicht allein mit den Problemen zu sein»

Das ist ein grosser Teil unserer Arbeit. Fast drei Viertel aller Anfragen, die wir täglich bekommen, stehen im Zusammenhang mit finanziellen Problemen. Viele Menschen haben nicht genug Geld, um ihre alltäglichen Ausgaben zu decken.

Bezieht sich das auf den offiziellen Richtwert vom Bundesamt für Statistik von 2200fr pro Monat?

Ja, aber man muss genauer hinschauen, was das be deutet. Davon müssen Miete, Krankenkasse, Lebensmittel und andere Kosten bezahlt werden. Bei vielen reicht das nicht aus. Viele ältere Menschen müssen auch Steuern zahlen. Das meiste wird schon für das Lebensnotwendige verwendet. Wenn man da nach noch Steuern zahlt, wird es häufig zu knapp. Ein Antrag auf Ergänzungsleistungen ist in vielen Fällen zentral wichtig, wird aber häufig gar nicht oder zu spät gemacht

Denken Sie, dass Initiativen wie die 13. AHV Rente, die im März 2024 angenommen wurde, dem Problem der Armut entgegenwirken können?

Für Menschen mit sehr niedrigem Einkommen könnte das eine spürbare Verbesserung bringen. Aber die genaue Umsetzung der Initiative ist noch nicht klar. Es bleibt abzuwarten, wie genau sich das auswirkt.

Was fehlt Ihrer Meinung nach noch, um Altersarmut besser zu bekämpfen?

Das grösste Problem ist der Wohnungsmarkt. Es gibt zu wenig bezahlbaren Wohnraum für ältere Menschen. Hier wünsche ich mir mehr Engagement der Gemeinden oder der Städte. Zudem muss alles für gleiche Entlöhnung getan werden, damit die Schwelle zwischen Mann und Frau verschwindet. Es kann nicht sein, dass Frauen mehr unter Armut leiden müssen als Männer.

Denken Sie, dass der Unterschied in der Altersarmut zwischen Männern und Frauen in Zukunft kleiner wird?

Ja, ich denke schon. Immer mehr Frauen sind gut ausgebildet und verdienen ähnlich wie Männer. Aber es gibt noch viel zu tun, vor allem bei der Bezahlung von Care-Arbeit. Das «Gender-Pay-Gap» bietet auch noch Verbesserungspotenzial. Es müssen Reformen getätigt werden, die hart gegen eine ungleiche Entlöhnung durchgreifen.

Wie kann man das Thema Altersarmut mehr in die Öffentlichkeit bringen?

Es ist wichtig, darüber zu reden und das Bewusstsein zu schärfen. Viele Menschen schämen sich, über ihre finanziellen Probleme zu sprechen. Hier könnte die Politik mehr tun. Der Bund könnte die Öffentlichkeit ermutigen offen und urteilsfrei über finanziellen Notstand zu sprechen.

Denken Sie, dass sich viele Menschen als Last für die Gesellschaft fühlen, wenn sie Sozialleistungen beziehen?

Ja, das ist ein grosses Problem. Viele haben das Gefühl, sie würden anderen zur Last fallen. Hier müssen wir das Bewusst sein schärfen. Die Menschen müssen wissen, dass es okay ist, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Schweiz ist eine Leistungsgesellschaft. Es wäre gut, wenn wir im Alter die Früchte unserer Arbeit ernten könnten.

«Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft mehr Solidarität zeigen und niemanden zurück lassen»

Denken Sie, dass finanzielle Probleme im Alter auch zu psychischen Problemen führen können?

Ja, definitiv. Armut führt oft zu sozialer Isolation und chronischem Stress. Viele Menschen ziehen sich zurück. Sie schämen sich, ihre Situation zu zeigen.

Wäre es sinnvoll, Menschen schon vor der Pensionierung über notwendige finanzielle Änderungen aufzuklären und zu beraten?

Ja, das wäre eine gute Idee. Vielleicht zwei bis drei Jahre vor der Pensionierung, um ihnen Sicherheit zu geben. Die Menschen sind zu wenig gut auf finanzielle Probleme im Alter vorbereitet.

Denken Sie, dass die di rekte Demokratie in der Schweiz dabei hilft, Lösungen zu finden?

Auf jeden Fall. Die direkte Demokratie gibt den Menschen die Möglichkeit, sich einzubringen und Veränderungen anzustossen. Allerdings ist auch ein grosser Nachteil der direkten Demokratie die lange Zeitdauer für notwendige Entscheidungen. Sollten gewisse Änderungen schnell benötigt werden, so kann es trotzdem Jahre dauern bis es sich durchsetzt. Ich würde daher raten, sich frühzeitig zu in formieren und Beratungsstellen aufzusuchen. Es gibt viele Möglichkeiten, um Unterstützung zu bekommen, darunter Sozialämter in Gemeinden, Schuldnerberatungsstellen oder Pflegestützpunkte.

Und wie können Angehörige helfen?

Angehörige sollten offen über das Thema sprechen und ihre Eltern oder Grosseltern ermutigen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Oft ist es schon eine grosse Erleichterung, nicht allein mit den Problemen konfrontiert zu sein.

«Viele Menschen tragen wenig Eigenverantwortung, sie hatten häufig nur Pech»

Gibt es bestimmte Projekte oder Initiativen, die Sie besonders unterstützen würden, um Altersarmut zu bekämpfen?

Ja, es gibt einige vielversprechende Projekte. Zum Beispiel Initiativen, die sich für mehr bezahlbaren Wohnraum einsetzen. Auch Programme, die ältere Menschen dabei unterstützen, länger im Berufsleben zu bleiben, sind gute Möglichkeiten. Zum Beispiel kann die Förderung von ehrenamtlicher Arbeit helfen, soziale Isolation zu verringern.

Das klingt etwas sehr zuversichtlich. Denken Sie, dass solche Projekte auch von der Politik unterstützt werden?

Ja, aber es könnte mehr getan werden. Die Politik sollte stärker auf die Bedürfnisse älterer Menschen eingehen und gezielte Massnahmen ergreifen, durch höhere Grundrenten, Wohnbeihilfen für Senioren und bezahlbare Pflegeangebote. Wichtig sind auch niedrigschwellige Beratungsstellen, die ältere Menschen frühzeitig erreichen.

Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen, wenn es um das Thema Altersarmut geht?

Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft mehr Solidarität zeigen und niemanden zurücklassen. Viele Menschen tragen nur wenig Eigenverantwortung an ihrer Armut, häufig hatten sie nur Pech. Gegen genau solche Willkürlichkeiten muss vorgesorgt werden, durch einen starken Sozialstaat.

Wie sehen Sie die Zukunft? Sind Sie optimistisch, dass wir Altersarmut besser in den Griff bekommen können?

Ja, ich bin optimistisch. Es gibt viel politisches Engagement und auch die Gesellschaft wird sich der Probleme immer mehr bewusst. Aber es wird Zeit brauchen, bis dieses Problem alle erreicht. Grosse Projekte sind oft langjährig, und wir müssen dran bleiben. Die Mutterschaftsversicherung hatte von 1920 bis 2005 bis es endlich umgesetzt wurde. Für mich völlig unverständlich.

Vielen Dank für ihre Zeit.

Sehr gerne

Niemand hat die Absicht, eine Alterswohnung zu errichten

Sophia Fromm, die Geschäftsleitung des Wohnungsprojekts W60.ch, gibt im Gesprächy Einblicke in das Wohnen im Alter.

Sophia Fromm; Foto: b20.ch

VON GIAN CALUORI UND ANDRIN MÜLLER

Viele Unternehmen haben eine Vision. Hatten Sie auch so eine Vision?

Ja, eine solche Vision hatten wir. Allerdings schon einige Jahre bevor der Bau gestartet hat. Wir sind eine Baugenossenschaft und die Stadt Bern hat einen grossen Anteil daran. Wir suchten eine Lösung für Leute, welche noch nicht so alt sind, dass sie in ein Altersheim gehen oder von der Spitex betreut werden müssen. Zudem haben sie wenig Geld und einige beziehen auch Ergänzungsleistungen. Viele dieser Leute leben in zu grossen und schlecht sanierten Wohnungen. Solche Wohnungen sind finanziell gut tragbar. So besteht bei den Bewohnern und Bewohnerinnen auch kein grosses Interesse umzuziehen. Die zu grossen Wohnungen würden sich aber für Familien gut eignen. Familien suchen oft nach grossen und preisgünstigen Wohnungen, die in eher ruhigeren Quartieren gelegen sind. Deshalb wollten wir kleine, attraktive und moderne Wohnungen schaffen und somit die grösseren Wohngelegenheiten für Familien frei machen.

Sie sprachen von der Stadt Bern. Unterstützt diese viele solche Projekte?

Die Stadt ist sehr daran interessiert, solche Projekte zu fördern, auch wenn dies nicht nicht primär finanziell geschieht. Finanziell beteiligt sich die Stadt direkt bei Mieterinnen und Mietern, die EL oder Sozialhilfe bezahlen oder dann durch die Beteiligung an Alltagsunterstützung mit Hilfe der Betreuungsgutsprachen.

Denken Sie, dass die Stadt Bern solche Projekte finanziell unterstützen sollte und auch andere Städte solche Projekte fördern sollten?

Die Stadt Bern besitzt selber viele Immobilien, was in anderen Städten häufig nicht der Fall ist. Auch die Betreuungsgutsprachen sind sehr fortschrittlich. Diese gibt es neben Bern nur in Zürich. Obwohl es fast keine finanzielle Unterstützung gibt, sind Wohnbaustrategien von der Stadt vorgegeben. Der genossenschaftliche Wohnbau wird allgemein stark gefördert. Nicht nur ältere Menschen, auch Familien sind froh um solche Wohnungen. Es betrifft nicht nur die alten Menschen, es gibt viele Familien, die auf preisgünstigen Wohn raum angewiesen sind, aber ich glaube jedoch, es geht mehr um eine allgemeine Unterstützung. Seit Januar 2024 wurden die Beträge der EL erhöht.

Viele Leute, die finanzielle Schwierigkeiten im Alter haben, sind häufig einsam. Haben die Begegnungszonen des W60 einen positiven Einfluss auf die Psyche?

Ja, auch wenn es nicht das Ziel ist. Es geht nicht da rum, Alterswohnungen zu bauen. Auch Freizeitaktivitäten stellen wir nicht zur Verfügung. Viele Bewohner und Bewohnerinnen haben schon vorher in diesem Quartier gewohnt und so kennen sie sich untereinander. Sie lebten häufig in grösseren Wohnungen und Häusern.

«Wir haben uns bewusst nicht auf Alterswohnungen spezialisiert.»

Neu zieht auch eine Kita ins Erdgeschoss ein, was die Durchmischung fördert. Auch ein Quartierzentrum und ein Alterszentrum mit direktem Anschluss an das Gebäude werden gebaut. Trotzdem ist man nicht gegen Einsamkeit geschützt.

«In der überschaubaren Umgebung können die Bewohner und Bewohnerinnen länger selbst ständig leben.»

Was ist die Hauptziel gruppe für Bewohner und Bewohnerinnen?

Pensionierte Menschen sind in der Mehrheit hier. Darunter befinden sich mehr Frauen als Männer. Die Menschen sind etwa zwischen 55 und 90 Jahre alt. Für uns war bei der Auswahl der Bewohner und Bewohnerinnen wichtig, dass die Wohnungen lange bewohnt werden und Menschen nicht für nur eine sehr kurze Zeit einziehen. Bewohner und Bewohnerinnen, die ein paar Monate nach Wohnungsbezug in ein Alters heim umziehen oder Sterbealter erreichen, liegen weniger in unserem Präferenzbereich als Menschen, welche Aussicht auf ein eigenständiges Leben haben.

Auf ihrer Website steht nichts von Alterswohnungen. Weshalb sind trotzdem fast alle Bewohner im Rentenalter?

Auf unserer Website findet sich der Hinweis «für selbstbestimmtes Leben». Auch jüngere Menschen, zum Beispiel im Rollstuhl und mit tiefem Einkommen sind willkommen. Je doch hat sich unser Ange bot sehr schnell unter älteren Menschen herumgesprochen und so haben sich auch sehr viele ältere Menschen beworben.

Wir sind ein bisschen durch die Begegnungszone hier in der Umgebung gelaufen. Es ist ein sehr lebhaftes Quartier. Werden die Blöcke zusammen schnell eine Vernetzung schaffen?

Hier, wo wir jetzt gebaut haben, stand früher das „Wylerhuus“. Dieses war das Quartierzentrum, das jetzt an einen neuen, zwei Minuten entfernten Ort umgezogen ist. Das Quartierzentrum ist sehr aktiv in Auswahl der Bewohner und Bewohnerinnen wichtig, dass die Wohnungen lange bewohnt werden und Menschen nicht für nur eine sehr kurze Zeit einziehen. Bewohner und Bewohnerinnen, die ein paar Monate nach Wohnungsbezug in ein Altersheim umziehen oder Sterbealter erreichen, liegen weniger in unserem Präferenzbereich als Menschen, welche Aussicht auf ein eigenständiges Leben haben.

Wir haben schon zwei Jahre vor Aufschaltung der Wohnung eine Interessenliste geführt. Auch ohne Inserate hat sich das herumgesprochen. Viele Menschen haben angerufen oder sich per E-Mail gemeldet. Letzten Sommer waren dann die Preise fix und wir haben alles geklärt. Allein auf der Liste gab es schon genug Bewerbungen, sodass wir die Wohnungen gar nicht aus schreiben mussten.

Was kosten die Wohnungen?

Es sind 34 Wohnungen, davon sind sieben doppelt belegt. Die restlichen sind einzeln belegt. Die Mieten starten bei 1360 CHF für eine Eineinhalb-Zimmerwohnung und gehen bis 1470 CHF für eine Zweieinhalb Zimmerwohnung.

Sind die Menschen froh, dass solche Wohnungen gebaut wurden?

Ja. Für viele war es wichtig, das Quartier nicht zu verlassen, gerade im hohen Alter, wenn man schon lange im Quartier gewohnt hat. Viele haben auch Kin der hier grossgezogen und da nach allein in einer Es ist also wichtig, solche Wohnungen im Quartier zu haben? Ja, das ist wichtig. Es ist sehr anstrengend, sich noch einmal komplett an zu bauen. Auf kleine Dinge haben wir schon geschaut. Zum Beispiel sind alle Wohnungen schwellenlos. Wir haben aber keine Hilfen wie Griffe in der Dusche oder sonstige Hilfsmittel montiert. Viele Leute mögen es auch nicht, in ihrer Wohnung, immer an ihr Alter erinnert zu werden. Wohnung gelebt. Natürlich waren die Leute sehr glücklich. Es hatte je doch nicht für alle Interessenten Platz, was ein wenig Bild:W60.ch Verbessert sich die Psyche der Menschen, wenn sie ein normales Leben führen können und nicht konstant an ihr Alter er innert werden? Enttäuschung aus löste.

Es ist also wichtig, solche Wohnungen im Quartier zu haben?

Ja, das ist wichtig. Es ist sehr anstrengend, sich noch einmal komplett an eine neue Umgebung zu gewöhnen. So kann man die Gewohnheiten beibehalten. Auch Dienstleistungen wie zum Beispiel Ärzte bleiben am gleichen Ort. So müssen sich die Bewohner nur um das Nötigste Gedanken machen.

Bild:W60.ch

Apropos Arzt, Wurden schnelle Wege zu medizinischen Einrichtungen gewährleistet und beim Bau berücksichtigt?

Das wurde leider nicht beachtet. Den Ort hier durften wir nicht frei wählen. Er war schon von Anfang an vorgegeben. Es war aber auch nicht das Ziel, Alterswohnungen zu bauen. Auf kleine Dinge haben wir schon geschaut. Zum Beispiel sind alle Wohnungen schwellenlos. Wir haben aber keine Hilfen wie Griffe in der Dusche oder sonstige Hilfsmittel montiert. Viele Leute mögen es auch nicht, in ihrer Wohnung, immer an ihr Alter erinnert zu werden.

Verbessert sich die Psyche der Menschen, wenn sie ein normales Leben führen können und nicht konstant an ihr Alter er innert werden?

Sicher. Zurzeit wird eine der Wohnungen von einem Ehepaar bewohnt. Die Frau ist jedoch an Alzheimer erkrankt. Sie wohnten bis jetzt in einer grösseren Wohnung. Kürzlich hat sich dann ihre Tochter gemeldet und mir gesagt, dass eine kleinere Wohnung für ihre Eltern wichtig wäre. So kann ihre Mutter viel länger ein selbstständiges Leben führen. In einer kleinen Wohnung besteht die Ge fahr, sich zu verlaufen, viel weniger. Man verlegt auch weniger Dinge, da es weniger Platz zum Verlegen hat. So ist dieses Ehe paar dann in eine kleinere Wohnung umgezogen. Es sind schöne Momente, wenn wir älteren Menschen das Leben erleichtern können.

Das selbstständige Wohnen haben Sie nun schon ein paar Mal erwähnt. Auch auf der Website sticht einem dieser Be griff ins Auge. Haben Sie das hier gut erreicht?

Es ist schwierig, dass man die richtige Menge an Selbständigkeit gewährt. Ansonsten müssten wir hier kein Büro haben. Wir hätten nur die Wohnungen bauen und dann wie der gehen können. Uns könnte es egal sein, wie die Leute hier wohnen. Wir haben ein modulares System. Die Bewohner können einfach wie in einer Mietwohnung leben und sehr wenig mit uns zu tun haben. So ist ihr Leben sehr selbstbestimmt.

«Es ist wichtig, bezahl baren Wohnraum für ältere Menschen zu schaffen, damit Sie selbstbestimmt leben können»

Wenn sie aber Hilfe oder Unterstützung im Haus halt brauchen, können sie diese bei uns beantragen und wir schauen dann für Unterstützung. Solche Unterstützung muss aber nicht unbedingt von uns kommen. Wenn eine Person immer schon die gleiche Putzfrau hatte, kann sie vorgehen, wie wenn sie in einem normalen Haus wohnen würde. Sie gibt die Adresse an und die Putzfrau kommt dann einfach an diese neue Adresse. Wir haben dann nichts damit zu tun.

Das sind sehr vielfältige Möglichkeiten und auch gute Aussichten für die Zukunft. Wir danken Ihnen vielmals für das Gespräch

«Viele möchten nicht ständig an ihr Alter erinnert werden.»

Bild:W60.ch

Lösung in Lindengrün

Im Alter bezahlbar wohnen – wie geht das? Ein neues Wohnprojekt zeigt innovative Wege für gemeinschaftliches und günstiges Leben im Alter.

In der Schweiz sind über 300'000 Senioren und Seniorinnen von Altersarmut betroffen. Viele von ihnen leben in alten, schäbigen Wohnungen, da es an bezahlbarem Wohnraum mangelt. Dieses Problem wurde erkannt und es werden vermehrt Anstrengungen unternommen, um preiswerte Wohnungen bereitzustellen. Darunter fällt beispielsweise das Projekt W60 im Wylerquartier in Bern, das wir besuchen durften. Dank günstigen Mieten, Ergänzungsleistungen die mit tragbar der AHV und sind, und gemeinschaftlichen Wohnformen bietet es älteren Menschen mit kleinem Budget ein modernes und bezahlbares zuhause.

Wohnung von Frau Lehmann; Foto: Gian Caluori

Im Wylerquartier

Am Tag unseres Besuchs des Projekts W60 scheint die Sonne vom Himmel und überall sind erste Frühlingsboten zu entdecken. Die Vögel zwitschern energisch. Der fröhliche Klang wird aber immer wieder durch Baustellenkrach unterbrochen. Man hört das Scheppern der Mulden, das Hämmern der Arbeiter und das Brüllen der Luftgebläse. Die Menschen im Quartier scheinen sich aber daran nicht weiter zu stören. Die Strassen wirken lebhaft und die Menschengruppen gut durchmischt. Das Projekt W60 besteht aus einem sechsstöckigen Gebäude mit Kleinwohnungen, grösstenteils von älteren Menschen bewohnt. Über ein schlichtes Beton Treppenhaus oder einem kleinen Lift gelangt man in die verschiedenen Stockwerke des Neubaus. Die Treppen sind mit einem modernen Holzgeländer versehen. Viele runde Lampen fluten das Treppenhaus mit warmem Licht. Die Wände der Stockwerke sind mit einem lindgrünen Anstrich versehen, der langsam in einen goldenen Schein übergeht. Im vierten Stock erhaschen wir einen kurzen Blick auf ein freundliches, vom Alter gekennzeichnetes Gesicht.

Mitten im Zuhause

Wir entscheiden uns, bei einer Wohnung zu klingeln und ein kurzes Gespräch zu führen. Nach kurzem Warten öffnet eine ältere Frau die Türe. Sie hat graues, schulterlanges Haar und trägt eine runde Brille. Sie schaut uns mit grossen, grünen Augen an. Wir stellen uns vor und sie bittet uns hinein. In der Wohnung duftet es nach frischen Blumen und neuen Möbeln. Durch eine grosse Fensterfront strömt Licht ins Innere der schlichten, aber doch modernen Wohnung. Die Zweieinhalbzimmer Wohnung ist karg eingerichtet, denn viel ist aufgrund des erst kürzlich erfolgten Umzugs noch verpackt in Kisten. Vor einem kleinen runden Tisch steht ein mit vielen Kissen geschmücktes Korb-Sofa. Vis-à-vis steht ein kleiner Holztisch, auf dem ein Festnetz-Telefon platziert ist. Auf einem Gestell an der Wand befindet sich ein Drucker untergebracht und zwischen zwei Musikboxen steht ein kleiner Fernseher. An einer Wand im Wohn- und Esszimmer erkennen wir eine Küchenzeile. Die Küche ist schlicht eingerichtet. Die Küchenablage ist eingerahmt von weissen Holzschränken. Daneben hat es einen kleinen Durchgang in das Schlafzimmer. Die Wände sind ebenfalls grün gestrichten und im Mittelpunkt steht ein gemütliches Bett. Das Badezimmer ist in einem ähnlich modernen Look gestaltet. Auch hier sticht einem wieder ein Lindengrün in die Augen. Dieses Mal in Form der Fliesen. Durch die Glastür gelangt man auf den Balkon. Unser Blick fällt auf die Lebhaft wirkende Wylerringstrasse und das darumlegende Wylerquartier. Wir erkennen mehrere Wohngebäude mit orangen Fassaden und grüne Wiesen, auf denen Kinder Fangen spielen. In der Entfernung verfliesst der Gurten mit dem Horizont.

Direkt im Leben

Wir beginnen mit der freundlichen Bewohnerin ein Gespräch. Sie heisse Susann Lehmann und sei seit Kurzem in der neuen Wohnung. Sie erzählt uns aufgeregt über die Kinderkrankheiten ihrer Wohnung. Ihr Briefkasten lasse sich nur schwer öffnen. Sie hätte dieses Problem dem Büro der Eigentümerin im Parterre gemeldet. Gemäss Frau Küng, der operativen Leiterin des W60, muss das mit einem Schraubenzieher behoben werden. „Bis jetzt hat sich aber noch niemand um mein Anliegen gekümmert“, stellt sie fest. Auch im Badzimmer gibt es nach Ansicht von Frau Lehmann noch Verbesserungsmöglichkeiten. Sie müsse aufpassen, beim Duschen nicht auszurutschen. Ein Bekannter habe ihr deshalb empfohlen, in der Dusche Griffe zu montieren. Diese Aussage erstaunt uns etwas, hat uns doch die Eigentümerin im Rahmen eines Interviews, das wir mit ihr geführt haben, erklärt, dass die Wohnungen absichtlich so eingerichtet wurden, damit sie nicht wie Alterswohnungen aussehen. Deshalb seien keine speziellen Hilfsmittel angebracht worden. Dies tue den Menschen nicht gut, weil sie dadurch immer an ihr Alter erinnert würden.

Baustelle Wylerquartier; Foto: Gian Caluori

Frau Lehmann erklärt uns hingegen, dass sie nicht leugnen könne, älter zu werden. „Deshalb lege ich den Wert lieber auf mein Wohlbefinden.“ Für solche Anliegen ist Frau Küng zuständig und Frau Lehmann hat ihr ihren Wunsch mitgeteilt. Frau Küng nahm die Anfrage sehr ernst und verständigte schon sehr bald einen Sanitär. Solche Dinge müssen die Bewohner und Bewohnerinnen, also auch Frau Lehmann, selbst finanzieren.

Obwohl die Bewohnerinnen und Bewohner ihren Haushalt grundsätzlich selbstständig führen, können sie bestimmte zusätzliche Dienstleistungen, wie einen Spitex-Dienst, in Anspruch nehmen. Diese Dienstleistungen müssen sie selbst bezahlen. An der Wand neben dem Eingang hängt eine Liste mit den entsprechenden Preisen. Zudem können die Bewohner und Bewohnerinnen auch selbst Dienstleistungen organisieren, die sie benötigen, wie bei einer normalen Wohnung.

Rückschauend sagt frau Lehmann, dass es nicht gerade einfache war Wind vom Projekt W60 zu bekommen. Sie besuchte regelmässig das Wylerbad und ihr sei die Baustelle ins Auge gestochen. Sie habe in dieser Zeit intensiv nach einer gut gelegenen Alterswohnung gesucht, die finanziell tragbar war. „Die Schilder an den Baugerüsten warben mit erschwinglichen Wohnmöglichkeiten“, erzählt sie. Obwohl die Wohnungen im Internet gar nicht ausgeschrieben waren, habe sie beschlossen, es zu versuchen, und habe Frau Fromm angeschrieben. Prompt habe sie eine Rückmeldung erhalten und konnte dann die Wohnung besichtigen und den Vertrag unterzeichnen. Nun sei sie endlich eingezogen. Sie freut sich sehr, dass sie diese Wohnung gefunden hat, und nimmt dies keinesfalls als selbstverständlich wahr. Sie betont auch, dass all diese Kinderkrankheiten zu einem Neubau gehörten und sie sich deshalb nicht entmutigen lasse. Wir bedanken uns für das Gespräch und machen uns auf den Weg zur nächsten Wohnung.

Ankommen und dableiben

Wir klingeln erneut. Eine klein gewachsene ältere Frau, die sich als Frau Jordi vorstellt, öffnet uns verwundert die Tür. Doch als wir ihr unser Anliegen erklären, bittet sie uns hinein und bietet uns Kekse an. Wir nehmen das Angebot dankbar an und machen es uns auf der cremefarbigen Polstergruppe bequem. Auch Frau Jordi ist gerade erst eingezogen, wie der Geruch nach frischer Farbe und neuen Möbeln unschwer erahnen lässt. Sie lauscht gespannt unseren Fragen und verzieht den Mund, als wir auf die Dusche zu sprechen kommen. Sie machte dieselbe Erfahrung wie Frau Lehmann: „Ich bin fast ausgerutscht, konnte mich aber an der Badetuchstange festhalten und so ist zum Glück nichts Schlimmes passiert.“ Sie erzählt uns weiter, dass es sich für sie so anfühle, als seien die Wohnungen von Architekten für Architekten geplant worden und nicht von Architekten für Senioren. Die Küchenschränke seien viel zu hoch, sie könne sie kaum erreichen, geschweige denn benützen. Der Backofen sei viel zu tief und der Dampfabzug schlecht erreichbar. Doch trotz all dieser Mängel ist sie sehr dankbar für diese Wohnung. Auch sie hat lange gesucht und ist von Bekannten auf dieses Projekt aufmerksam gemacht worden. Sie kann sich nicht vorstellen, was wäre, wenn sie diese Wohnung nicht bekommen hätte. Sie arbeitete ihr ganzes Leben als Bibliothekarin und als solche verdiene man nicht viel. Mit ihrer Altersvorsorge könne sie sich keine schöne, zentrale Wohnung leisten.

Dicht dran - trotz allem

Nachdem wir von bei Frau Jordi verabschiedet haben, klingeln wir bei der nächsten Wohnung. Zu unserer Überraschung öffnet uns keine ältere Person, sondern ein junger Mann. Etwas verwirrt fragen wir ihn, ob er hier wohnen würde. Lachend verneint er unsere Frage, er sei der Enkel der zukünftigen Bewohnerin und richte gerade die Wohnung für sie schön her. Bis jetzt gestalte sich die Einrichtung jedoch als eine Katastrophe. Er lehnt sich an den Türrahmen und seufzt. Er lässt einen müden Blick über die vielen, immer noch verpackten Kisten und Möbel schweifen. Bis jetzt laufe es nicht besonders gut. „Der Aufzug ist zu klein für die grossen sperrigen Möbel und so mussten wir alles über die Treppe in den fünften Stock schleppen“, erklärt er. Und die Küche, die als modern und hell beschrieben wurde, mache ihrer Beschreibung keine Ehre: eine verstopfte Spüle, ein tropfender Hahn und eine Herdplatte mit eigenem Willen. Dazu komme das organisatorische Durcheinander, vom verspäteten Möbelpacker, über einen defekten Transporter, bis zu einem Schlüssel, der partout nicht passen wollte, und einem Hausmeister, der ausgerechnet dann nicht zu erreichen war, als man ihn brauchte. Alles scheint schief zu gehen, doch der Enkel wirkt nicht entmutigt. «Ein Neubau ist ein Neubau, das lässt sich nicht ändern».

Herausforderungen weichen - Lebensmut bleibt.

Unser letzter Bewohner, mit dem wir sprechen, ist ein älterer Herr mit, silbernem Haar. Er empfängt uns mit einer höflichen, aber leicht resignierten Geste. Seine Wohnung ist ordentlich eingerichtet, wäre da nicht der Rollator, der etwas verloren in der Mitte des Wohnzimmers steht, wo er eigentlich nicht hingehört. Mit einem Seufzer führt er uns zum Balkon, wo ihm ein kleiner Absatz am meisten Probleme bereitet. "Jedes Mal ein Kampf", erklärt er ruhig, während sein Stock gegen den störenden Absatz klopft. "Entweder bleibt das Rad hängen, oder ich muss den ganzen Wagen anheben und die Kraft dafür nimmt leider ab." Seine Worte klingen nicht verbittert, nur ein wenig müde von den täglichen Anstrengungen. Er betont jedoch, dass dies zum Glück wirklich der einzige Absatz in der gesamten Wohnung sei.

Wir möchten noch von weiteren Bewohnern und Bewohnerinnen ihre Meinung und ihre Geschichte erfahren. Deshalb klingeln wir bei einer nächsten Wohnung. Jedoch tut sich in der Wohnung auch bei erneutem Läuten nichts. Wir suchen daher eine andere Wohnung und versuchen es im ersten Stock. Wir klingeln bei einer der kleinsten und somit auch günstigsten Wohnungen. Diese Eineinhalbzimmer-Wohnung wird von einem älteren Herrn bewohnt. Herr Tanner öffnet mit einem freundlichen Lächeln. Seine kleine Wohnung ist einfach, aber gemütlich eingerichtet.

"Die Dusche ist ganz schön glatt", meinte er und zeigt auf das Badezimmer. "Haltegriffe wären praktisch." Draussen fährt gerade ein Zug vorbei. Trotz der Dreifachverglasung ist es ungemütlich laut in der Wohnung. An den Lärm habe er sich immer noch nicht gewöhnt, sagt er mit einem Schulterzucken. Für die Zukunft wünsche er sich Schalldämmung.

Dusche von Herr Tanner; Foto: Gian Caluori

In der Küche deutet er auf die vollen Regale und Schränke. "Hier fehlt einfach Platz für alles." Trotzdem wirkt er zufrieden. Eigentlich wollte er gar nicht hierher, verrät er. "Aber jetzt fühlt es sich doch wie ein zuhause an."

Nach diesem Gespräch beschliessen wir, unseren Besuch zu beenden. Mit den Notizen zu den 4-Gesprächen auf unseren Handys machen wir uns zufrieden auf den Heimweg. Der Besuch im Projekt W60 hat uns eindrücklich vor Augen geführt, wie wichtig bezahlbarer und altersgerechter Wohnraum für Senioren und Seniorinnen ist. Die Bewohner und Bewohnerinnen, mit welchen wir gesprochen haben, sind dankbar für die Möglichkeit, in modernen Wohnungen leben zu können. Auch mit teils herausfordernden Umständen. Ihre Geschichten zeigen, dass solche Projekte nicht nur eine finanzielle Entlastung bieten, sondern auch ein Stück Würde und Selbstständigkeit im Alter bewahren.

Wylerquartier und W60 Wohnprojekt; Foto: W60.ch